A. Kölz: Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte

Cover
Titel
Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte. Ihre Grundlinien in Bund und Kantonen seit 1848


Autor(en)
Kölz, Alfred
Erschienen
Bern 2004: Stämpfli Verlag
Anzahl Seiten
992
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Andreas Kley

Ziemlich genau ein Jahr nach dem Tod von Alfred Kölz (vgl. SZG 2003 S. 447– 449) erscheint der zweite Band seiner «Neueren schweizerischen Verfassungsge - schichte», womit das Gesamtwerk seinen Abschluss findet. Der Zürcher Verfassungsgeschichtler arbeitete bis in seine letzten Lebenstage daran und konnte das Buch fast vollenden. Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Zürich und die beiden ehemaligen Mitarbeiter Thomas Gächter und Stefan G. Schmid haben in verdienstvoller Weise das Werk postum fertiggestellt.

Der fast 1000 Seiten starke zweite Band setzt die 1992 erschienene Darstellung der Zeit bis 1848 fort und legt die verfassungsrechtliche Entwicklung im Bund und vor allem in sämtlichen Kantonen seit Gründung des Bundesstaates dar. Es handelt sich um eine grosse Leistung, die kantonalen Ordnungen mit ihrer je eigenen Geschichte prägnant und in der geforderten Kürze darzustellen. Alfred Kölz hat diese Herausforderung überzeugend bewältigt. Sein Werk deckt ein dringendes Bedürfnis ab, da eine vergleichende Übersicht über die kantonalen Entwick - lungen bisher fehlt. Zwar sind zahlreiche Kantonsgeschichten mit Tiefgang er - schienen, aber der nahe Zusammenhang zwischen den verschiedenen kantonalen Entwicklungen wird in diesen Einzeldarstellungen nur ungenügend sichtbar.

Einleitend stellt der Autor wichtige, heute weitgehend vergessene Theoretiker der Demokratischen Bewegung der 1860er Jahre vor, etwa den Bündner Politi - ker Florian Gengel (1834–1905) oder die «Ecole de Winterthour», also die Zürcher Demokratische Bewegung um die Zeitung «Der Landbote». Interessant sind auch die Ausführungen über den Zürcher Sozialisten und Sozialutopisten Karl Bürkli, der seine Vorstellungen schliesslich in Texas zu verwirklichen suchte, dort aber scheiterte. Bürkli hatte im Kanton Zürich den Ausbau der direkten Demokratie gefordert, und tatsächlich wurde ein Teil dieser Forderungen in der Zürcher Verfassung von 1869 auch realisiert. Jahre später sollten dann – das ist freilich nicht mehr Gegenstand einer schweizerischen Verfassungsgeschichte – diese direktdemokratischen Institutionen in zahlreiche Gliedstaaten der USA ausstrahlen und dort erfolgreich verwirklicht werden.

Zunächst skizziert Kölz die verfassungsgeschichtliche Entwicklung aller 26 Kantone seit 1848. Es handelt sich dabei um Darstellungen, welche die zum Teil äusserst komplexen Vorgänge einfach und übersichtlich darlegen. Als Beispiel sei hier auf die turbulente Entwicklung im Kanton Tessin hingewiesen, wo der Streit um das Wahlrecht von 1889/90 zu einem bewaffneten Aufstand der Liberalen gegen die regierenden Konservativen führte und eine Intervention des Bundes nach sich zog. Unter dem Druck des Bundespräsidenten Ruchonnet wurde die Proporzwahl für den Grossen Rat eingeführt. Die Tessiner Politik verlief dann in geordneteren Bahnen. Die Proporzbewegung ergriff in der Folge viele Kantone und schliesslich, nach zwei erfolglosen Anläufen, 1919 auch den Bund. Die erstmalige Neuwahl des Nationalrates nach dem Verhältniswahlrecht führte zum Verlust der absoluten Mehrheit des Freisinns. In gewisser Weise hatte der Freisinn damit seine historische Mission erfüllt: Die Institutionen des Bundesstaates hatten sich durchgesetzt, bewährt und waren unbestritten akzeptiert. Das zeigt sich etwa daran, dass der Bundesstaat lediglich 1891 die Sechshundertjahrfeier des Bundesbriefs von 1291 begehen konnte – dieses Jubiläum erschien unverdächtig und konnte auch von den katholisch-konservativen Kantonen mitgefeiert werden. Es ist interessant, dass Kölz in seiner Schilderung der Verfassungsentwicklung ab 1874 lediglich die harten Rechts- und Abstimmungsfakten beschreibt. Dabei würde die Darlegung der sich entwickelnden Mentalitäten diese positivrechtliche Entwicklung nur unterstreichen und noch überzeugender machen.

Der Autor gliedert bei der Verfassungsentwicklung des Bundes den Stoff in thematisch-chronologische Abschnitte. Von grosser Bedeutung ist die Zulassung der Volksinitiative auf Partialrevision der Bundesverfassung 1891. Zuvor wurde mehrfach auf dem Wege der Initiative auf Totalrevision versucht, einzelne Revisionspostulate, etwa die Schaffung des Banknotenmonopols zugunsten des Bundes, durchzusetzen. Der Bundesrat hatte diese Initiativen trotz Bedenken als Totalrevisionsinitiativen zugelassen und der Bundesversammlung entsprechend Antrag gestellt. Damit war die Schaffung der Partialrevisionsinitiative vorgespurt. In einem weiteren Kapitel wird etwa die Forderung nach der Volkswahl des Bundesrates behandelt, die 1848, 1874 anlässlich der Totalrevision sowie 1900 und 1942 in Volksinitiativen erneut aufgeworfen wurde. Dieser Teil behandelt insbesondere auch die Entwicklung der Wirtschafts- und Sozialverfassung im 20. Jahrhundert und – besonders interessant – die Entwicklung der Staatsrechtslehre.

In den Schlussbetrachtungen geht Kölz unter anderem der Frage nach, ob die Schweizer Verfassungsgeschichte auch Anregungen für die Zukunft Europas bieten könnte. In der Schweiz stellt das Parlament das entscheidende Bindeglied zwi - schen Volk und Rechtsetzung dar. «Betrachtet man die Stellung und Aufgaben des heutigen EU-Parlamentes, so wird bald klar, dass es diese anspruchsvolle Aufgabe kaum übernehmen kann», schreibt Kölz. Der Weg vom Vertrags- zum Verfas - sungseuropa sei noch weit.

Wertvoll ist es, dass Kölz die Belege und die Fussnoten gegenüber Band I ange - reichert hat, wenngleich sich der wissenschaftlich interessierte Leser eine noch höhere Dichte der Belegstellen wünschen könnte. Das Werk wurde vom Autor – wohl als eines der letzten seiner Art – von Hand geschrieben und erst nachträglich elektronisch erfasst. Das kommt ihm zugute: Die Sprache ist sparsam, knapp und klar. Thomas Gächter und Stefan G. Schmid haben bei der postumen Fertigstellung des Werks umsichtig und im Geiste des Autors in den fast fertiggestellten Text eingegriffen und dies kenntlich gemacht. Sie und die beteiligten früheren Assistierenden haben eine hervorragende und selbstlose Arbeit geleistet. Der Band ist eine Fundgrube für politische Ideen und sollte von jeder an Politik interessierten Person in die Hand genommen werden. Es ist verblüffend, wie sich in der dargestellten Geschichte zahlreiche Ideen finden, die heute wieder diskutiert werden.

Kölz’ Verfassungsgeschichte gehört nicht in die Vergangenheit, sondern ist ein Arbeitsmittel zur Bewältigung der Gegenwart. Es handelt sich um ein umfassendes Werk über die Erfahrungen des Menschen bei der Gestaltung des Gemeinwesens. Dabei geht es um mögliche Antworten auf die Frage, welche Institutionen und Werte für den besten Staat nötig sind. Wer möchte heute auf diesen reichen Fundus an Erfahrung verzichten, der sich mit Verfassung, Politik und der Regelung gesellschaftlicher Konflikte beschäftigt?

Zitierweise:
Andreas Kley: Rezension zu: Alfred Kölz: Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte, Ihre Grundlinien in Bund und Kantonen seit 1848. Bern, Stämpfli-Verlag, 2004. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr.1, 2005, S. 115-116.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr.1, 2005, S. 115-116.

Weitere Informationen
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit